Beziehungstipps: Sexualtherapeutin gibt Ratschläge für die Corona-Krise
Zurück zur Übersicht

Beziehungstipps: Sexualtherapeutin gibt Ratschläge für die Corona-Krise

Beziehungstipps: Sexualtherapeutin gibt Ratschläge für die Corona-Krise

Beziehungstipps: Sexualtherapeutin gibt Ratschläge für die Corona-Krise 

Ann-Marlene Henning über Liebe, Selbsterhaltung & Streitgespräche

Keine Termine, viel Ruhe und massig Zeit für den Partner oder die Partnerin – klingt traumhaft, oder etwa nicht?! Aktuell sind wir angehalten, den Großteil der Zeit in den eigenen vier Wänden zu verbringen. Das ist aber nicht immer nur entschleunigend und romantisch, sondern stellt viele Paare vor Herausforderungen, die das Liebesleben belasten können. Wie können Paare es schaffen, in Zeiten von Corona harmonisch zusammenzuleben und gleichzeitig das Feuer aufrecht zu erhalten? Wir haben Ann-Marlene Henning, Sexualtherapeutin, Autorin und Moderatorin, nach ihren Beziehungstipps gefragt.

 

1. Woran liegt es, dass sich Paare nach langem, intensivem Aufeinanderhocken auf die Nerven gehen? Können Menschen etwa auch zu viel Zeit miteinander verbringen?

Vorab muss man natürlich sagen, dass jedes Paar anders und jede Konstellation individuell ist. Es gibt allerdings ein paar Risikofaktoren, die jede Beziehung auf eine Probe stellen können. Um zu verstehen, warum es kriselt, muss man sich bewusstmachen, was während Ausnahmezuständen in unseren Gehirnen passiert.

Denn es ist in erster Linie tatsächlich das Gehirn, welches uns zu bestimmen Verhaltensweisen treibt. Die beiden Schlüsselwörter in  Zeiten von Corona lauten „Druck“ und „Raum“. Es entsteht in uns ein unbekannter, unerwarteter Druck, auf den unser Hirn sofort mit Rettungs-Signalen reagiert. Es merkt quasi, dass etwas nicht stimmt und schaltet in den Flucht- und Angriffsmodus: Wir werden angespannt und sensibel. Um uns der Gefahr zu stellen, sollten wir nun entweder angreifen oder flüchten – beides ist im Falle eines Virus nicht gut möglich. Diese Flucht- und Angriffsinstinkte werden leider auch auf jegliche andere Störung in der Nähe übertragen, und trifft so manchmal auch die Beziehung. Das äußert sich beispielsweise durch Frust, Ärger oder Zweifel. Die Probleme potenzieren sich. Hinzu kommt bei vielen Menschen auch Langeweile.

Jetzt ist das Wichtigste, sich diesen biologischen Prozessen im Gehirn bewusst zu werden und ihnen proaktiv entgegenzuwirken. Denn ganz schutzlos sind wir unseren Instinkten zum Glück nicht ausgeliefert.

2. Man sollte jetzt also anfangen, bewusst viel Mühe und Arbeit in die Beziehung zu stecken?

Ja, und man beginnt bei sich selbst, das kann nämlich auch Beziehungsarbeit sein. Eigenfürsorge ist das, worum es besonders geht. Bedeutet, ganz bei sich zu sein und die eigenen Gedanken und Gefühle wahrzunehmen, zu akzeptieren und zu reflektieren. Man sollte sich fragen: Bin ich genervt, traurig, verzweifelt? Es geht dabei um das aufmerksame Reinfühlen. Falls ja, ist das okay, schließlich befinden wir uns in einer Ausnahmesituation. Doch dann sollte man überlegen, wie man sich besser fühlen könnte. Was sind die eigenen Bedürfnisse, was tut jetzt gut? Braucht man Zeit für sich, einen Tapetenwechsel, ein Workout zum Auspowern oder möchte man ein Buch lesen?

Dann sollte man sich genau dafür den Raum schaffen – und das auch selbstbewusst beim Partner oder der Partnerin bzw. der Familie einfordern. Denn ein gesundes, zufriedenes „Ich“ ist die Grundlage für eine funktionierende Partnerschaft. Kümmert man sich nicht um dieses Ich, haben bald alle Beteiligten ein Problem. Ich vergleiche das immer gerne mit der Notfall-Belehrung im Flieger: Erst die eigene Sauerstoffmaske aufziehen und sich dann mit vollen Kräften um die Anderen kümmern. Was im ersten Moment egoistisch klingt, ist unbedingt notwendig für die Partnerschaft.

3. Was tun, wenn eine gähnende Langeweile entsteht, durch die es zur Sex-Flaute kommt? 

Schon mal vorab: Je länger eine Beziehung ist, desto mehr beeinflusst es den Sex im Allgemeinen negativ, dies belegen Studien. Ein ganz normaler Vorgang also, wenn aus dem Verliebtsein Liebe wird. Hier kommt wieder unser Gehirn ins Spiel: Es liebt Altbekanntes und baut, um Energie zu sparen, den ganzen Tag Muster. Was wir in und auswendig kennen, wirkt aber bald uninteressant und langweilig. Das führt beim Thema Sex oft zur Unlust. Zum Glück können wir unser Gehirn hier aber auf dem Weg helfen, indem wir ihm aktiv neuen Input geben und es mit Ungewohntem, Spannendem, also neuen Eindrücken füttern.
 
Das macht neugierig und wach, sodass die Dinge (in dem Fall das Liebesleben) wieder spannend werden. Was so einleuchtend klingt, ist in der Umsetzung meist nicht so einfach. Denn es bedeutet, dass man wirklich etwas tut, aus der Komfortzone ausbricht, aktiv wird und selbst gesteckte Grenzen überwindet. Oft muss man sich auch eingestehen, dass man selbst etwas eingerostet ist und sich vielleicht hat gehen lassen, in der eigenen Rolle festgefahren ist. Diese Erkenntnis kann im ersten Moment etwas beschämend sein, aber bei sich selbst anzufangen ist Pflichtprogramm. Man sollte sich fragen, was man selbst tun kann – und es dann auch tun. Macht euch interessant, wagt etwas Neues, bringt den Nervenkitzel wieder zurück! Wie wäre es denn mal mit einem erotischen Spiel? Das könnt ihr ganz einfach online bestellen. Sucht euch gemeinsam etwas aus und testet es.
 
Doch es muss nicht immer Sex sein.

4. Was kann man noch gegen die Langeweile in der Beziehung machen?

Tauscht Zärtlichkeiten aus, die im Alltag vielleicht verloren gegangen sind. Ein kurzer Kuss im Hausflur, eine Umarmung in der Küche, ein frecher Klaps auf den Hintern im Vorbeigehen. Mit jeder körperlichen Berührung werden wir unterbewusst wieder ein Stückchen mehr miteinander verbunden.
 
Und redet miteinander! Jetzt ist die Zeit für interessante Fragen und intensive Gespräche. Vor allem, wenn man schon etwas länger zusammen ist, entsteht der Eindruck, dass man sich in- und auswendig kennt. Das ist oft aber nicht der Fall. Denn auch der Partner oder die Partnerin macht ständige Veränderungen durch, hat neue Gedanken und Gefühle, über die ihr reden könnt und solltet. Fragt euch doch einmal, wie der Tag für den anderen war. Auch wenn in diesen Zeiten nicht viel Spektakuläres passiert, nennt jeder 5 Dinge, die heute schön, interessant oder sonst wie positiv waren. Manchmal kann es einen erstaunen, wie die andere Person den Tag erlebt hat und was ihr wichtig und lieb ist.

5. Die Coronakrise bietet viel Zeit, um über die eigenen Bedürfnisse zu sprechen – das kann auch schnell mal in einem Streit enden. Was sind Ihre Tipps für ein respektvolles Gespräch über die eigenen (sexuellen) Bedürfnisse?

Ein Satz ist hier wichtig: Gute Kommunikation an sich löst keine Probleme. Es geht nicht nur um die Ausdrucksweise, sondern um den gesprochenen Inhalt. Es geht darum, sich klar und deutlich und vor allem ehrlich mitzuteilen. Grundvoraussetzung ist dafür wieder, dass man sich der eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Forderungen bewusst ist. Das ist nach wie vor der erste Schritt. Hat man Klarheit für sich selbst, stehen die Chancen für ein sachliches, respektvolles Gespräch gleich viel besser. Man sollte auf keinen Fall Angst vor der Konfrontation haben und auch mal unangenehme Dinge ansprechen, wenn es was zu klären gibt – die Beziehung wird nicht gleich scheitern. Aber bitte sprecht stets auf Augenhöhe miteinander, erklärt euch, nehmt euch ernst und lasst euch ausreden. Solche Gespräche zu führen, erfordert Mut und Zeit. Beides könnt ihr aktuell wunderbar aufbringen. Wem das schwerfällt, der muss nicht gleich mit der ganzen Tür ins Haus fallen. Ihr könnt euch auch schrittweise herantasten und zuerst kleinere Dinge besprechen, die euch im Alltag stören – etwa die dreckigen Klamotten, die ihr immer vom Boden aufsammeln müsst.
 
Mein Gesprächstipp: Einer äußert sein Anliegen bzw. sein Bedürfnis. Bevor der Partner oder die Partnerin daraufhin etwas erwidert, muss er/sie das Gesagte mit eigenen Worten wiederholen. Erst, wenn es so wiedergegeben wurde, wie es gemeint war, darf weitergeredet werden. Was umständlich klingt und sich im ersten Moment sicherlich ungewohnt anfühlt, hilft euch dabei euch zu leveln und eine gute Gesprächsgrundlage zu schaffen. 

 

  1. Nicht jeder kann so kontrolliert diskutieren. Was ist Ihr Beziehungstipp für hitzige Gemüter? 
     
    Wenn ihr merkt, dass die Situation hochkocht, dann rate ich euch dringend zu unterbrechen, sogar den Raum zu verlassen. Und erst wiederzukommen, wenn sich die Gemüter beruhigt haben. Vorher macht ein weiteres Gespräch wirklich keinen Sinn. Und so schwer es in der Situation auch fallen mag, ihr müsst euch dazu zwingen, euch ehrlich mit euch selbst auseinanderzusetzen. Habt ihr euch gerade wirklich fair verhalten? Oder welche eurer eher schlechten Charakterzüge kamen in diesem Streit zum Vorschein?
     
    Nur wer sich hier seiner selbst bewusst wird, kann ein sinnvolles Versöhnungsgespräch führen. Werdet euch auch der Verantwortlichkeit bewusst, die ihr für euch selbst aber auch für eure Beziehung habt.
     
  2. Wenn es gar nicht mehr läuft und der Zugang zur Paartherapie, zu einem Sexualtherapeuten oder einer Sexualtherapeutin gerade nicht wie gewohnt möglich ist – wie sollte man damit umgehen?
     

Erst einmal gilt es, die Situation anzunehmen und als Phase zu akzeptieren – vielleicht als eine besonders schwierige Phase, die aber vorübergehen wird. Niemand sollte eine Entscheidung treffen, während er oder sie im Flucht- oder Angriffsmodus ist. Diese Entscheidungen sind in den meisten Fällen übereilt und werden oft hinterher bereut.

Setzt euch der Phase aus, wartet bis der Spuk vorbei ist und bucht euren Beratungstermin beim Sexualtherapeuten oder bei der Sexualtherapeutin dann, wenn der Corona-Shutdown überstanden ist – vorausgesetzt eure Beziehungskrise läuft ohne psychische und physische Gewalt ab!